Im Jahr 2000 erschien eine Broschüre der AG Behinderung & Sexualität mit dem Titel "Lebensgeschichten. Liebesgeschichten. Traum- und Alltagsgeschichten". Dabei handelt es sich um Geschichten von Nutzer*innen über ihre Lebenswege und Erfahrungen sowie Wünsche im Bereich Liebe und Sexualität. Da diese Berichte viel zu schade sind, um in Vergessenheit zu geraten, werden wir zukünftig an dieser Stelle immer wieder einzelne Geschichten vorstellen. Digitalisiert wurde die Broschüre von unserer Computergruppe der Tagesförderstätte in der Kienhorststraße.
Die folgende Lebensgeschichte beruht auf Interviews. Sie wurde im Nachhinein verschriftlicht und gekürzt. Der individuelle Ausdruck des Erzählenden wurde dabei weitgehend beibehalten. Die Namen aller Verfasser*innen wurden geändert.
Erwin W., 48 Jahre
Für eine Kontaktanzeige würde ich mich beschreiben als einen aufgeweckten, jung gebliebenen und etwas korpulenten Mann, der sich für viele Dinge des Lebens interessiert, obwohl er im Rollstuhl sitzt. Ich habe eine schwere spastische Tetraplegie und kann meine Arme und Beine nicht allein bewegen. Nur meinen Kopf kann ich selbständig bewegen.
Die Leute auf der Straße denken bestimmt, ich komme allein aus den Rollstuhl heraus, die wissen ja gar nicht, dass ich einen Lifter brauche und beim An- und Ausziehen, bei der Toilette, beim Duschen, Essen und Trinken immer viel Hilfe brauche. Mit technischen Hilfsmitteln kann ich selbständig telefonieren und allein am Personalcomputer schreiben.
Ich habe erst mit sieben Jahren sprechen gelernt und hatte von 9 bis 20 Jahren Hausunterricht. Den schloss ich mit einem Hauptschulabschluss ab. Ich habe keine geregelte Arbeit und dadurch sehr viel Freizeit. Ich schreibe viele private Briefe, Hausmitteilungen, Artikel und Aushänge für die Spastikerhilfe und mache kleinere Schreibarbeiten an meinem Computer. Für meine Freizeit wünsche ich mir, öfter mal spontan abends losgehen zu können und um die Häuser zu ziehen. Das würde ich gern mit Betreuern oder Freunden von mir tun. Aber immer muss man alles vorausplanen. An- und Abtransport müssen geklärt werden und dadurch bin ich ganz schön eingeschränkt in meiner Freizeitgestaltung.
Ich habe einen großen Freundeskreis. Das sind meistens Nichtbehinderte. Alle Verabredungen, Termine, Einladungen und Unternehmungen organisiere ich mir per Telefon, einmal pro Woche besuche ich ein Freizeitzentrum für Senioren, den Schachclub und meine Kirchengemeinde. Über Annoncen in Stadtmagazinen habe ich schon einige feste und wechselnde Schachpartner kennen gelernt, mit denen ich mich auch ziemlich regelmäßig treffe.
Seit acht Jahren wohne ich erst in meiner jetzigen Wohngruppe und habe zuvor immer im Elternhaus gelebt. Aber nachdem ich miterleben musste, wie alle meine jüngeren Geschwister zu Hause auszogen, entstand in mir auch der Gedanke, ein unabhängiges Leben führen zu wollen. Mit 42 Jahren wurde dann mein Traum nach einem selbständigen Leben endlich wahr, und ich konnte in eine Wohngruppe der Spastikerhilfe Berlin einziehen.
Als ich hier eingezogen bin, hatte ich noch Berührungsängste. Da ich zuvor sehr wenige Frauenkontakte hatte, war es mir peinlich, wenn mich Frauen gewaschen haben. Heute ist es mir lieber, wenn die Frauen die pflegerischen Arbeiten machen, da sind die Handgriffe nicht so hart wie bei Männern, das kann ich mehr genießen. Und ich finde es auch besser, beim Waschen, gestreichelt’ zu werden als gar nicht.
Sexualität ist ein sehr wichtiges Thema in mein Leben und es fällt mir jetzt auch leicht darüber zu reden. In den Gesprächskreisen der AG „Behinderung und Sexualität“ hab ich eine sehr gute Möglichkeit gefunden, mich mit anderen behinderten Menschen über sexuelle Themen auszutauschen und über meine eigenen Gefühle, Probleme, Sorgen zu sprechen.
Die Sexualerziehung durch meine Eltern war schon sehr verklemmt. Meine Mutter kommt aus einem sehr christlichen Elternhaus und war besonders „zu“, und mein Vater verhielt sich unbeteiligt und gleichgültig. Als ich 14 Jahre alt war, wurde ich durch meine Brüder, meinen Religionslehrer und meinen Hauslehrer aufgeklärt. Meine Eltern wollen meine Sexualität nicht wahrhaben. Ich sei krank und behindert und habe keine sexuellen Wünsche zu haben. Für meine Eltern war und ist das Thema Sexualität tabu. „Du kannst ja doch nicht heiraten.“ sagte mein Vater und damit war’s für ihn erledigt. Wenn zu Hause im Fernsehen mal Filme liefen, wo mal ein nackter Körper zu sehen war oder sich zwei geküsst haben oder so, dann wurde der Film von meinen Eltern sofort ausgemacht.
Ich erinnere mich auch, dass meine Brüder schon mit 14 oder 15 Jahren die erste Freundin hatten und nachts oft gar nicht oder erst sehr spät nach Hause kamen. Ich dagegen besuchte noch mit 30 Jahren den Kindergottesdienst und hatte aus diesem Kreis mehrere Freundschaften. Meine Brüder hatten ganz andere Freiheiten zu Hause als ich. Ich hatte eigentlich überhaupt keine Möglichkeiten, Kontakte zu Mädchen und jungen Frauen zu knüpfen oder zu pflegen.
Wenn ich mal eine Freundschaft hatte, wurde nie an meine Zimmertür angeklopft, und meine Eltern untersagten mir diese Beziehung sofort, wenn sie mitbekamen, dass es mal zu einem Kuss kam.
Früher als ich meine rechte Hand noch bewegen konnte, da hab ich oft an meinem Pimmel gespielt, heute kann ich das nicht mehr. Meine Eltern kamen dann immer rein, haben nie angeklopft und haben mir das dann immer verboten. Der Nichtbehinderten können ganz andere Praktiken anwenden, um zum Höhepunkt zu kommen, wir Behinderten müssen es oft aushalten können und sind darauf angewiesen, Hilfen zu bekommen.
Heute bin ich froh, dass meine Eltern nicht mehr so wie früher alles von mir wissen, aber mir ist auch klar, dass der Ablösungsprozess von beiden Seiten noch längst nicht beendet ist.
Momentan habe ich keine Freundin. Ich hatte eigentlich noch nie eine Beziehung, das bedeutet Neuland für mich. Ich bin damit auch sehr unzufrieden und wünsche mir jemanden, mit dem ich meine sexuellen Wünsche ausleben kann. Zwei- bis dreimal im Jahr gehe ich in ein Studio zur Prostituierten oder „bestelle“ mir eine Frau für erotische Körpermassagen. Es macht mir Spaß, meinen Körper zu erfahren. Leider habe ich aber nicht so viel Geld und kann mir das nicht so oft leisten.
Ich habe aber schon ganz genaue Vorstellungen von meiner Wunschpartnerin und von einer Beziehung. Es sollte eine „Läuferin“ sein oder nur ein bisschen gehbehindert, die mir, vorausgesetzt sie macht es gern, auch ab und zu bei der Körperpflege usw. helfen kann. Sie sollte rothaarig sein. Nicht getönt, sondern die Naturhaarfarbe sollte etwas rot sein. Sie sollte nicht so spackeldürr sein, ruhig etwas molliger, aber auch nicht zu dick. Für eine Partnerschaft sind für mich Offenheit, Spaß haben, sich geliebt fühlen, Zärtlichkeit und Lust sehr wichtige Voraussetzungen. Besonders wichtig finde ich auch die Frage, wieviel Kinder man zusammen haben will.
Ich habe noch eine Menge Zukunftspläne. Ich möchte ein Haus auf dem Land bauen, in dem ich mit meiner Geliebten und zwei Kindern lebe. Unten sollen Arbeitsräume für kleine Handwerkerbetriebe sind. Ich möchte schon mit vielen Menschen zusammenleben.
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